Eigentlich finden Todesfälle doppelt statt.

Der erste Tod ist der, wenn das Herz zu schlagen aufhört.
Dann rennt die Familie zusammen, jammert, brüllt und wehklagt, organisiert und streitet über Blumenschmuck und die Kosten des Leichenschmauses. Alle sehen verheult aus, grau und dann beim vorletzten Schnaps wird es warm, denn die Überlebenden erkennen den Wert des Lebens, ihres Lebens. Es wird magisch und man umarmt sich und herzt sich und wenn dann alle wieder in ihr Leben zurückkehren, geht dennoch der Alltag nicht wirklich weiter.
Er holpert und schlingert und stürzt, weil die Innen- und die Außenzeit nicht zueinander passen wollen, weil unvermittelt Tränen herab laufen, weil die Lücke unüberwindbar groß ist.
In Folge scheint der Alltag zurück zu kommen. Innen und Außen kriegen wieder etwas miteinander zu tun, fast kehrt Normalität ein, die Tränen sind versiegt, die Lücke mit Efeu bepflanzt, das Leben scheint weiter zu gehen.
Und dann geschieht das zweite Sterben, ganz anders als das erste. Die Überlebenden haben die Hälfte ihrer selbst mit ins Grab der Nonnina gekippt und fallen nicht in Gräber, aber in derbe Löcher. Die italienische Zia zuerst mit entzündetem Finger im Krankenhaus. Die weltbeste Mutter mit entzündetem Bein im Krankenhaus, die schwäbische Tante mit übelstem Bluthochdruck im Krankenhaus und weltbester Vater mit Gichtanfall und Magenkrämpfen kurz vor der Einweisung.
Man muss die Psychologie nicht lieben, um zu erkennen, dass diese Entzündungen eigentlich wunde Herzen sind.
Das Schlimmste daran ist, wie normal so etwas eigentlich ist und wie unnormal es in dieser Zeit erscheint.
Wäre es nicht angemessen, Trauernden die Zeit zu geben, wirklich mal ein Jahr kürzer zu treten? Und wäre es nicht angemessen, dass sich die Trauernden dies auch selbst zugestehen, anstatt wie aufgezogene Batteriehasen wieder loszurennen, mit Tapferkeitsmedaillen um den Hals, auf denen geschrieben steht „es geht schon“?
Wäre es nicht angemessen, den Toten eine Kerze noch lange, lange anzuzünden, ihnen einen Stuhl an den Tisch zu stellen, mit ihrem Foto täglich Zwiesprache zu halten und jedem Idioten, der irrelevanten Mist wie etwa Treppenhausreinigung von einem verlangt, wortlos die Tür vor der Nase zuzuschlagen?
„Schneller-Weiter-Besser“-Mentalitäten kommen mir albern und pubertär vor.
La Nonnina war eine Frau, mit der ich wenig Gemeinsamkeiten habe, wenn man einmal davon absieht, dass ich streckenweise bei ihr damals in Santa Croce aufwuchs. Aber sie war ein Teil auch meines Lebens und sie fehlt. Und wie sehr, muss sie erst ihren Töchtern und Schwiegersöhnen fehlen?
Zeit heilt keine Wunden.
Jetzt haben wir eine Zeit, in der die Wunde erst spürbar wird. Und in einigen Jahren, wird sie weniger scharf brennen aber immer noch da sein. So wie die Wunden für all die zuvor Verlorenen auch.
Liebe heißt wohl, dass man nicht vergessen kann.
Gut so.
rpk - 16. Apr, 07:38

nachtgedanken?

mein gott, welche kolatteralschaeden ! gute besserung allen opfern !

feinstrick - 16. Apr, 09:20

Ja, in unserer Welt ist kein Platz zum Trauern, zum Abschiednehmen, zum Loslassen. Wir verdrängen und verdrängen und verdrängen. Aber die Trauer kommt immer wieder hoch. Mal in Form eines entzündeten Fingers, dann in schlafloser Unruhe, in tränenreicher Erinnerung, die einen im unpassendsten Moment heimsucht, in Wut, die sich an eigentlich Unbeteiligten abarbeitet. Das kann viele Jahre so gehen. Genau genommen so lange, bis man die Toten vergessen hat. Aber wie du so schön schreibst: Liebe kann nicht vergessen. Wie gut!

steppenhund - 16. Apr, 09:21

Am Tag, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, musste ich einen zweistündigen Bewerbungstest absolvieren. (Der lief übrigens gut.)
-
Persönlich bin ich trotz mancher gegenteiliger Erlebnisse kein Freund von Trauerarbeit. Was ich viel lieber feststelle, ist mit wachsendem Abstand vom Todeszeitpunkt die Erkenntnis, dass die Personen nicht wirklich tot sind.
Durch das, was sie uns gegeben haben, leben sie in uns selbst weiter und bleiben sehr präsent. Ich habe heute zu meiner Mutter ein besseres Verhältnis als je zu ihren Lebzeiten. Mein Vater kristallisiert sich in allen meinen Erlebnissen als wachsende Referenzperson heraus, dessen Erzählungen und Meinungen vielleicht nicht immer gestimmt haben, aber um so vieles gescheiter waren, als ich es sonst wo erfahren hätte.
Jeder hat wohl seine eigene Art mit Trauer umzugehen. Doch der Tod ist nicht das eigentlich Schreckliche. Das Schreckliche ist, im Leben keinen Sinn zu finden oder gefunden zu haben. Bei Personen, denen ich das aber "gutartig" unterstelle, kann ich kein Leid sehen, von lang andauernden Todeskämpfen einmal abgesehen.

Jossele - 16. Apr, 20:23

Wunden sind Wunden, mag sein sie vernarben irgendwie, aber das eine bleibt, das Fehlen.
Das andre bleibt als Möglichkeit, Loslassen (nicht mit vergessen gleichzusetzen!)
Weil irgendwie ist immer auch die Angst vor der eigenen Endlichkeit, und daran will man nicht gern denken.
So Floskeln wie, sie wird immer bei uns sein, klingen manchmal hohl, aber ein bisserl was ist dran, und das ist gut so, wenns so kommt.

sandhexe - 16. Apr, 23:37

Nein, wir dürfen unsere lieben Verstorben NIEMALS vergessen!Sie leben tatsächlich so in unseren Herzen weiter (auch wenn sich das jetzt ziemlich schmalzig anhört) Wie oft ertappe ich mich im Zwiegespräch mit meiner Mutter und erschrecke mich, wenn ich daran denke, dass ihr Tod nun schon fünf Wochen her ist.
Noch immer will ich sie anrufen, ihr Neuigkeiten erzählen, vom Kurzurlaub eine Karte schreiben und doch müssen wir demnächst ihre Wohnung ausräumen.......

croco - 17. Apr, 10:42

Das ist schon traurig, dass man Trauer nicht mehr zeigen darf. Früher, in meiner Kindheit, trug man ein Jahr lang schwarze Kleidung. Oder einen schwarzen Trauerflor am Revers. So konnte man anderen, ohne Worte, mitteilen, wie es um einen steht. Und andere konnten so Rücksicht nehmen.

b.k. - 17. Apr, 11:39

wenn die liebe brennt, entzündet sich der schmerz...

ekowa - 18. Apr, 14:54

herzschmerz...magisch...und jeder zeit eine kerze anzuzünden, tut gut...

sich die zeit geben um kürzer zu treten...ja das wäre schön, ist aber beinahe unmöglich...die zeit kennt keine schmerzen und gefühle oder gar psyche...sie geht unaufhaltsam und rücksichtslos weiter als wäre nichts geschehen...und wenn wir nicht mitgehen, bleiben wir auf der strecke, selbst auf die frage nach dem warum gibt es keine antwort.
auch ich habe schon viele liebe menschen verloren, darunter auch meine nichte
malin, sie war 7 und wie eine eigene tochter für mich und es hat mir mein herz
zerrissen und diese wunden werden niemals heilen...aber die liebe bleibt für
immer und das ist gut.

@b.k.: wie recht du hast liebe brigitta...
und das geschieht wieder und wieder...jetzt...hier...und überall und jedesmal
schmerzt es aufs neue....noch ein bisschen mehr...

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