wir verhandeln das sterben....

nein, eigentlich sitzen wir nur beim 94jährigen kopf des clans. sie ist eine dame. hat wortlos in all ihrer damenhaften hilflosigkeit den job meines grossvaters übernommen. sie langweilt sich, sie ist nicht gern allein, sie hat angst vorm sterben und wär doch gern beim grossvater. ambivalenz ist die kunst der frauen bei uns. aber dies ist ein anderes thema. ihr herz rast mit dem dritten schrittmacher wunderbar. derweil ist paules herz frisch repariert und er ist kleinlaut und geht freiwillig zur reha. nicht der, den man kennt. aber mit vernunft gesegnet. ist auch was wert. gelegentlich wird das oberhaupt, um dessen alltag sich die welbeste aller töchter, also meine mutter, täglich kümmert, nach schwaben verschoben. das sind die wochen ihres aufatmens, dem die tage der sehnsucht nach dem oberhaupt folgen. ist das oberhaupt wieder im maindörfli gelandet, geht der geliebte kümmerungsstress wieder los. der gesamtclan fürchtet sich in den tagen des schwabenaufenthaltes immer besonders. horrormeldungen aus dem schwabenland lassen hier täglich die verschnaufpause in sich zusammenfallen. notfallpläne werden erstellt. dann kommt das oberhaupt zurück. damenhaft. termine zur fusspflege, beim arzt, beim hörgeräteakkustiker, mit der dame von der pflegeversicherung werden verhandelt. die weltbeste aller töchter, meine mutter, geht erneut auf dem zahnfleisch und beisst um sich. derweil verhandeln wir das sterben. der clan schickt patientenverfügungen hin und her. keiner traut sich zu unterschreiben. der grossvater durfte in einem hospiz versterben. seine frau vermutet bis heute, man habe ihn mit opium um die ecke gebracht. dabei durfte er nur schmerzfrei gehen. derweil verabschiedet sich die clanchefin langsam. sie wird einfach weniger, kleiner, dünner, leiser. aber das hirn ist auf zack. sie weiss genau, wann sie wem wo und warum ihr letztes bügeleisen geliehen hat. zwar schraubt sie am hörgerät herum, das pfeift auch gehorsam, und sie kriegt jedes wort, das an ihr vorbei gehen soll, mit. eigentlich alles blödsinn. in dem alter benötigt man keine patientenverfügung mehr. die organe sind für spenden zu alt, unnötige versuche wird eh keiner mehr machen. dennoch.... das unerträglich unvermeidbare erscheint plötzlich planbarer. auch gut. die clanchefin vertraut dem clan, dass keiner sie einfach abnippeln lässt. derweil testet sie ihren neuen knopf, den sie um den hals hängen hat. als die stimme aus dem off sich meldet und fragt, ob es der chefin gut gehe... ist selbige so erschrocken, dass sie für den rest der nacht zittert wie eine espe. im tv ratscht derweil herr jürgens der schlagersänger. seine brüder und er riefen einen totenstammtisch ins leben. so wie sich meine schulfreundinnen und ich einmal im jahr treffen, so sitzen bei herrn jürgens die brüder zusammen – die überlebenden – essen, trinken und erinnern sich. wenn meine oma mal nicht mehr ist, werde ich das clanoberhaupt, habe ich gerade beschlossen. dann werden wir auch so einen überlebendenstammtisch einrichten und fressen, saufen, singen, erinnern. das singen klappt noch ganz gut. die weltbester aller mütter und ich haben es heute ausprobiert. kanon funktioniert noch. nach zwanzig jahren nikotin treffe ich die töne zwar nicht mehr, aber das ist mir wurscht. ehrlich gesagt, will ich auch nicht 94 werden, geschweige denn älter. die schwester der clanchefin wurde 98. wir nannten sie lederstrumpf. sie hatte einen alten reichen nazi geheiratet, der früh verstarb. mit seinem geld bereiste sie die welt und war immer braun gebrannt. aber egal. wir verhandeln den tod. wie die nationalelf schiessen wir den ball hin und her, geben pässe ab. wer unterschreibt, wer entscheidet, wir wissen es nicht und spielen den ball immer wieder einander zu. ein eigentor wird es sicher nicht. wenn der ball im gegnerischen tor landet, wird der tod der schütze sein. währenddessen stürmen die verbliebenen TNS (tuesday night skater) an meinem fenster vorbei. die oma ist eine nachteule so wie ich. ihr licht brennt noch. und dennoch wird es herbst.
das wort des tages prägte meine weltbester mutter. „morgen müssen wir zur schneiderungsänderei“..... eben....
Bermejo - 6. Sep, 09:00

oh doch ich möchte 98 werden(natürlich gesund +munter)
ich würde wie jetzt auch an den spätsommerabenden auf der veranda sitzend eine spanische zigarette rauchen

röschen - 6. Sep, 09:20

Och, es ist hart, wenn man die eigenen Verwandten langsam schwächeln und weniger werden sieht...

Verde - 7. Sep, 00:14

räusper

meine Großmutter ist vor 3 Tagen mit 99 Jahren gestorben. Sie hat das beschlossen und bewirkt, indem sie einfach nichts mehr gegessen hat und die letzten Tage auch jegliche Flüssigkeit verweigerte. Punkt.
Als gesetzlicher Betreuer habe ich den ungeheuerlichen Behördenkram jetzt hinter mir und heute wurde mir bereits die STERBEURKUNDE zugestellt ! Als Beweis quasi, daß sie wirklich tot ist oder was ??
Ich trauere nicht um die Oma, sie hat ein erfülltes Leben gehabt und in diesem Alter ein Recht darauf, zu sterben .
Ich werde die Erinnerung an sie bis an MEIN Lebensende bewahren.
Aber dieses ganze amtliche, medizinische, altenheimerische und sonstwas Prozedere ist einfach nur kroteskt.
Und diesen geldgierigen Leichenbestatter würde ich am liebsten erwürgen, diese Betonkirche in die Luft sprengen und diesen unsäglich häßlichen Friedhof einebnen und darauf einen Wald pflanzen.

...

rosmarin - 7. Sep, 00:24

jo.... so ähnlich wird es mir auch gehen. 99 ist toll und erfülltes leben ist wunderbar. wenn wir nur genau hinschauen, haben wir alle ein erfülltes leben. dennoch.... tut mir leid.... :-)
Verde - 7. Sep, 00:44

für uns LEBENDEN geht es wohl darum das Leben zu erfüllen, die Zeit zu nutzen, das schwirrt mir im Kopf herum. Der Tod von Oma ist ein POSITIVER Anstoß für mich, kein Leid, keine Trauer.
sandhexe - 7. Sep, 00:30

dieses Gefühl zwischen halten wollen und gehen lassen ist nicht einfach. Liebe kann so weh tun.

Verde - 7. Sep, 00:52

wie sollte Liebe denn wehtun, liebe Frau Nachthexe ?
Das wird immer so leicht gesagt und ich kann es nicht nachvollziehen.
steppenhund - 7. Sep, 11:00

liebe Verde

Liebe kann deswegen so wehtun, weil es sehr schwer ist, den Zustand wirklcih selbstloser Liebe zu erreichen. Erst dann kann die Liebe bei einem aus sich selbst heraus Glück erzeugen. Sonst bleibt immer ein mehr oder weniger großes Quantum an "etwas zurückhaben wollen" oder wenigstens die Liebe anerkannt zu sehen.
Ich mache die Erfahrung oder habe sie gemacht, dass man nicht unbedingt in allen Fällen in der Lage ist, sich selbst bis zur selbstlosen Liebe zu steigern.
Kürzlich hat mir jemand geschrieben "selbst Verzicht kann zum Rausch werden".
Aber ich bin nur ganz wenigen Menschen begegnet, die selbstlos lieben konnten.
rosmarin - 7. Sep, 11:50

@steppenhund.... von selbstloser liebe halte ich nicht viel. also man muss unterscheiden zwischen der liebe zu freunden, familie, hundkatzemaus, den nachbarn etc. und der liebe zwischen mann und frau (nehmen wir jetzt halt mal die klassische variante). natürlich will man liebe anerkannt wissen, will liebe zurück bekommen, will loyalität und anerkennung. das finde ich auch in ordnung so.
die_ursula - 7. Sep, 22:57

liebe tut weh,

und im halten wollen ist doch nicht nur besitzdenken sondern auch der verlust von naehe, zaertlichkeit, stillem verstehen.......... heute ist mene 20jaehrige katze gestorben und ich eule wie ein schlosshund, weil
es weh tut
rosmarin - 7. Sep, 23:00

liebe ursula...... das tut mir unendlich leid. 20jahre ist eine sehr lange zeit.... und da blutet das herz....... ich kanns dir nachfühlen... mönsch.... scheisse das
die_ursula - 7. Sep, 23:23

danke

fotos in meinem ansonsten verwaisten blog
sandhexe - 8. Sep, 00:34

Lieber Herr Verde

leider lese ich ihre Frage erst jetzt. Immer tut ein Verlust einer lieben Person, oder eben eines liebgewonnen Tieres weh.
Stirbt meine Nachbarin, so tut mir das leid. Stirbt ein Familienmitglied oder ein Verwandter, so tut mir das weh und macht mich nicht nur traurig.
Als Mutter kann es mir auch wehtun, wenn ich sehe, wie mein Kind anders entscheidet, als ich es gewünscht hätte, aber meine Liebe zu ihm lässt es seinen Weg gehen.
Ohne Liebe täte manches weniger weh, aber vieles wäre weniger schön im Leben.
Liebe Grüße
die Nachrhexe ( warum ist es nur schon wieder so spät?)
Verde - 8. Sep, 01:17

Erst werde ich hier mit Frau angesprochen, jetzt mit Sie ...

sandhexe - 8. Sep, 01:19

sorry

DU ;-)
rosmarin - 8. Sep, 01:19

:-)) ach herr je... du armer.....

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